studie
auftraggeber tu-wien
partner
realisierung 2005
standort wien
diplomarbeit thomas mennel_tu wien 2005
betreuung prof. kari jormakka
im dialog über architektur stößt der theoretiker wie der praktiker an inhaltliche und sprachliche grenzen. zwischen fiktiven und den real gewordenen intentionen existiert eine divergenz, die aus der individualität des bezuges resultiert. die wahrnehmung einer architektonischen gegebenheit stützt sich auf unterschiedliche situations- und lebensbedingte motive, die sich in ihr widerfinden oder sich aus dieser heraus entwickeln. sie bedarf im allgemeinen nicht der reflexion bezüglich der konfiguration und erscheinungsform des bauwerkes. die diskussion über den inhalt einer konkreten empfindung ist daher letztlich eine über wahrnehmbare und artikulierbare erfahrungsmöglichkeiten, gespeist aus einem individuellen und kollektiven erfahrungsschatz. die frage nach relevanten baulichen und gestalterischen kriterien und den verantwortlichen mechanismen ihrer realisation bleibt daher zeitlos aktuell. unabhängig von legitimierungsversuchen einzelner protagonisten bleiben theoretische aussagen wie auch die umsetzung in konkrete architektur der bewertungen aus gelenkten sinnzusammenhängen durch fachleute und laien unterworfen. architekturrezeption ist schließlich untrennbar an die wahrnehmung des individuums gekoppelt.
die arbeit versucht der theoriebildung und dem sprechen über architektur abseits der kapitulation vor jener unendlichkeit an meinungen und einer degradierung der thematik zur reinen geschmacksfragen eine wahrnehmungstheoretische überlegung an die seite zu stellen. die phänomenologie als philosophische denkschule bildet dabei den wesentlichen anhaltspunkt, im speziellen die phänomenologie der wahrnehmung von maurice merleau-ponty. seinen überlegungen zufolge liegen empfindungen und urteilen zugangsweisen zugrunde, die eine charakterisierung im phänomenologischen sinn erfordern
[auszug aus der diplomarbeit]
01 00 architekturwahrnehmung – einleitende positionen
pérez gómez benennt die komplexen bezüge zwischen der einzelperson und seiner bebauten umwelt auf der ebene eines unterbewusst ‚transistorischen’ erlebnisses, das nicht einmal das denken mehr berührt. in der berufung auf das griechische schauspiel argumentiert er jenseits der poststrukturalistischen postmodernen tradition und den poetisch, linguistischen tendenzen eines gaston bachelard. [...] gewollt oder ungewollt trifft seine argumentationsweise auf den gemeinsamen ausgangspunkt der debatte: die griechische philosophie um platon und aristoteles und ihre bemühungen um die erfassung der ‚wahren’ werte der gegenstände. [...]
die „wahren“ werte finden sich direkt oder maskiert in aussagen verschiedenster architekten und theoretiker bis in die gegenwart, immer motivisch überhöht und für den fiktiven zuhörer und kollegen aufbereitet.
wir müssten den kern der wahrheit erkennen. nur fragen, die das wesen der dinge betreffen sind sinnvoll. die antworten, die eine generation auf diese fragen findet, sind ihr beitrag zur architektur. (mies van der rohe 1961)
wir wollen wissen, was kann sein, was sein muss und was nicht sein darf [...]. wir wollen aber eine ordnung, die jedem ding seinen platz gibt. und wir wollen jedem ding das geben, was ihm zukommt, seinem wesen nach.
das wollen wir tun auf eine so vollkommene weise, dass die welt unserer schöpfung von innen her zu blühen beginnt. mehr wollen wir nicht. mehr können wir nicht. (mies van der rohe o. j.)
nach einem überblick zu verschiedenen zitaten und tendenzen in der architekturtheoretischen „wortlandschaft“ im ersten werden im zweiten kapitel verschiedene architekturtheorien der letzten jahrhunderte analysiert, um den horizont an existierenden überlegungen abzustecken.
schwerpunkt der arbeit
entgegen der mystifizierung architektonischer sachverhalte in der architekturtheorie wird im hauptteil „wesensbestimmung“ zur wahrnehmung vollzogen, die den „gegenstands- und raumzugang“ des individuums abseits neurologischer und allgemein gängiger sichtweisen neu definiert.
[...] seine [merleau-pontys]dekonstruktion des wahrnehmungsablaufes [...] berührt seinsfragen über die debatte der physikalischen funktionsweisen der sinnesorgane und der reflexiv anmutenden erkenntnisbildung hinaus. grundlage sind verhältnisbildungsprozesse zwischen den menschen und der umgebung. ausgehend von einem autonom inhalte gerierenden körper – der leiblichkeit als feld – ergibt sich die wahrnehmung als beständig neu in statu nascendi.
leibempfindung, gegenstands- und raumwahrnehmung bilden die zentralen themen abseits der üblichen definition über raumkoordinaten. hier wendet sich die arbeit von den üblichen blickfeldern der sinnlichen erfahrung. einbezogen wird jedes einzelne glied, nicht lediglich im kinästhetischen sinn, sondern als komponenten eines sich ständig erneuernden erfahrungshorizontes, gespeist aus realen empfindungen und ihrer verknüpfung mit vergangenen situationen. verständlich werden assoziative momente, bildüberlagerungen und die erinnerungsfähigkeit, folgend auf einzelne impulse von außen. aktuelle reaktionsweisen ohne reflexiven hintergrund sowie reflexartiges handeln werden nach merleau-pontys lektüre plausibel.
[auszug aus der diplomarbeit]
»nihil est in intellectu, quod non antea fuerit in sensu« - nichts ist im verstande, was nicht zuvor in den sinneswahrnehmungen gewesen wäre. (locke 1689)
die reduzierung des wahrnehmungsgehaltes auf das einzelorgan hat ihre logik in den reizen, die wir der umgebung entnehmen oder ihr zuschreiben. die wissenschaftliche herleitung neuronaler vorgänge zielt auf dieses mechanistische prinzip der reizverarbeitung ab. allein aufgrund dieser tatsache entsteht der eindruck getrennter tätigkeiten der sinne und des geistes und wir sind geneigt, empfindungen und bewusstseinsinhalte eben diesen ‚separierten’ erfahrungen zuzuschreiben. [...]
ohne die subjektbezogenen manipulationsfaktoren benennen zu müssen, wird deutlich, wo die sinnlichen erfahrungen möglichkeiten und beschränkungen unterliegen: die ausrichtung der sinne gegenüber der umwelt und ihrem unendlichen gewirr an ‚neutraler’ reizinformation ist prädikativ, ebenso wie die ‚bemessung’ und interpretation der inhalte. [...]. durch die umfassende sinnliche tätigkeit ist der ‚reale’ situationsbezug aus empfindungen und geistigen verknüpfungen erst möglich. die funktion der sinne gipfelt für merleau-ponty in der gleichsetzung von sinn und sein. ohne die sinne ist das sein ‚unfassbar’ und ‚undenkbar’. [...]der leib als ihr gemeinsamer ursprung wird zum ‚informationsmotor’ und konstituent [...]. selbst in der geistig erzwungenen verweigerung oder selbstvergessenheit [...]im tagtraum ist ein mindestmaß an ‚sinnlicher aufmerksamkeit’ gegeben, wie reflexhandlungen zur abwehr einer gefährdung zeigen.
der beitrag des bewusstseins ist nicht die konzentration auf eben einzelreize, sondern die nachgetragene beurteilung dieser reize als konsequenz aus einer gesamterfahrung, [...]. für merleau-ponty ist das bewusstsein daher nicht notwendigerweise am ursprung des wahrnehmens gegeben. als voraussetzung für alle formen des wahrnehmens ist die hinwendung zum ereignis abhängig vom rein ‚biologischen sinn’ des stimuli. [...]
kernaussagen der arbeit
den denkanstößen des französischen philosophen maurice merleau-ponty und seinem werk phénoménologie de la perception / phänomenologie der wahrnehmung (1945/dt. übersetzung 1966) folgend wird versucht, jenen letztlich als ‚metaphysisch’ entlarvten begründungsversuchen eine philosophische sichtweise zur wahrnehmung entgegen zu halten. das ziel ist dabei nicht vorrangig, theoretische aussagen und thesen in zweifel zu ziehen, sondern vermeintlich objektive kausalzusammenhänge als personenbezogene interpretationen zu deklarieren. weder der inhaltliche output der protagonisten noch die wirkung und der historische wert namhafter gebäude soll geschmälert werden. phänomenologie ist per eigendefinition „wesensbestimmung“. sie wird als prädestiniert erachtet, um raum- und gegenstandsbezüge des individuums analysieren und sprachlich aufbereiten zu können. im kapitel 08 architektur und wahrnehmung – eine architekturtheoretische perspektive wechselt der inhalt über zur architekturwahrnehmung und ihrer definition. natur- und kulturwesen mensch wird im erforderlichen ausmaß beleuchtet und als situationsbedingt erkannt. der lineare zusammenhang zwischen theorie und ihrer rezeption, zwischen gebäude und den zu erwartenden erfahrungen löst sich schließlich auf. „architektur und leib. die ungewissheit der standpunkte“ benennt die „vagheit“ in anbetracht einer phänomenologischen hinterfragung. bei aller kritik großer theoriemodelle selbst bei jüngsten vertretern der architekturszene wie nox, versöhnlich bleibt der schluss aufgrund einer erkenntnis: der unreglementierbarkeit und verbleibenden offenheit der thematik.
[schlusspassage der diplomarbeit]
damit rückt jede ‚praktische’ und ‚theoretische’ auseinandersetzung mit den aufgaben und wirkungen der architektur in jenen bereich vor, der sich mit der vorstellungswelt, ihren grundlagen und motiven beschäftigt, ob wir wollen oder nicht. die rational, thetische erschließung der inhalte wird allerdings nicht gelingen. selbst derrida nennt die architektur die letzte festung der metaphysik, in der sich seiner ansicht nach das permiable [sic] ereignis vollzieht.
bleibt offen, was aus der letzten festung der metaphysik – der architektur – wird, was der einzelne von ihr erwarten kann und welche theoretischen motive ihm zur seite gestellt werden.